Die sechste Matrjoschka

1.

Nach einer Russlandreise mit den Eltern begann Ella Kreker, ein blondes, blauäugiges, durchaus lebenslustiges, aber nicht sehr gesprächiges Mädchen, Matrjoschken zu sammeln.
Verwandte wie Freundinnen erfuhren von Ellas neuer Leidenschaft und schenkten ihr mit Vergnügen diese spaßigen hölzernen Puppen. Die Kollektion wuchs derart rasant, dass die Matrjoschken in Kürze die Wohnung buchstäblich bis zum Rand füllten. Überall standen sie in Reih und Glied: auf einem Regal über dem Bett im Schlafzimmer, auf dem Telefonschränkchen neben dem Telefonapparat im Flur, auf dem Kleiderschrank im Gästezimmer, in Vitrinen wie in Schaufenstern ausgestellt - selbst in den Küchenschränken stieß man auf sie.
Und als Ella zweiundzwanzig Jahre alt wurde, bekam sie eine weitere, eher einfache hölzerne Puppe mit blauen Augen und roten Wangen geschenkt. Diese Matrjoschka veränderte Ellas Leben… Aber das werde ich Ihnen der Reihe nach erzählen.
An dem Tag, an dem die Puppe in ihr Leben trat, blieb Ella nach einer gelungenen Geburtstagsfeier mit zahlreichen Gästen abends allein in der Wohnung zurück. Die neue Matrjoschka stellte sie neben eine sehr ähnlich aussehende, einem Geschenk aus früheren Tagen, in eine Vitrine. Die Puppen sahen aus wie Zwillingsschwestern.
Am nächsten Morgen, einem Freitag, bereitete sich das Mädchen auf den Weg zur Arbeit vor, und beschloss, die Matrjoschka mitzunehmen. Ella hatte die Angewohnheit, Gegenstände, mit denen sie positive Erinnerungen verband, mit sich zu führen. Sie kaute ein Butterbrot, öffnete die Vitrine, sah die beiden Matrjoschken an und überlegte, welche der beiden die neue war – was schwer erkennbar war. Aber das Mädchen griff ohne zu zögern nach dem gestrigen Geschenk und steckte die richtige Puppe in die Handtasche. Dann kleidete sich sie rasch an und verließ das Haus.
Es regnete. Starke Windböen brachten die mit ihrem goldenen Herbstschmuck herausgeputzten Bäume ins Wanken. Ella öffnete den Regenschirm, knöpfte den Mantel zu und hastete den Bürgersteig entlang. Sie war als Kassiererin in einem Geschäft angestellt, hatte aber noch andere Aufgaben zu erfüllen wie für volle Regale zu sorgen und den Verkaufsraum in Ordnung zu halten. Was sie verdiente, war nicht viel, aber es reichte zum Leben. Ihr gefiel diese einfache, unkomplizierte Arbeit; im Geschäft achtete man sie, hielt sie, vollkommen zu Recht, für ehrlich und zuverlässig.

An jenem Tag saß Ella beinahe die ganze Zeit über an der Kasse, die Matrjoschka - genauer gesagt: die letzte und kleinste der sechs Puppen, die anderen ließ sie in der Handtasche - stand neben der Kasse. Ella sah sie ab und zu an und lächelte in Erinnerung an den schönen, lustigen Abend mit ihren Gästen. Ihr neuer Bekannter, Peter, ein Auswanderer, hatte sie den ganzen Abend über aus seinen treuen, braunen Augen angelächelt. Er war groß und hatte schwarzes Haar: mit einem Wort, ein Mann zum Heiraten. Das war zumindest die Meinung ihrer Mutter, die sie zu teilen schien, wollte sie ihrem Herzen Glauben schenken, das höher schlug, sobald sie nur an Peter dachte. Zweifelsohne hatte sie nichts dagegen, seine Braut zu werden…
Gegen Abend ließ der Andrang an der Kasse nach, und sie widmete sich anderen Aufgaben. Als sie zur Kasse zurückkam, war die Puppe verschwunden. Ella schaute sich fassungslos um und sah den jungen Verkäufer neben der zweiten Kasse stehen. Er trug einen weißen Kittel mit roten Manschetten, hatte einen Ring im rechten Ohrläppchen und lächelte sie frech an. Ella fragte argwöhnisch:
„Klaus, hast du meine Matrjoschka genommen? Gib sie sofort zurück!“
„Was soll ich mit deiner russischen Puppe anfangen?! Vielleicht hat sie jemand gestohlen“, antwortete der junge Mann.
„Lüg nicht! Ich sehe dir an, dass du es warst.“
„Ja, ich habe sie genommen. Ich gebe sie dir zurück, wenn du versprichst, mit mir ins Kino oder die Disko zu gehen.“
„Mit dir?! Nie im Leben!“
„Dann übernachtet deine Puppe heute bei mir! Morgen erhältst du sie zurück.“
Ella wollte das Streitgespräch fortsetzen, aber ein Kunde hinderte sie daran. Nach Geschäftsschluss suchte sie Klaus vergeblich im Geschäft: Er hatte sich die Erlaubnis geholt, seinen Dienst früher zu beenden und war bereits nach Hause gegangen.
‚Gut, dann hole ich mir meine Puppe eben morgen zurück‘, dachte das Mädel und verließ das Geschäft.
Der starke Wind nahm die Wolken mit sich fort, und es zeigte sich die Sonne. Ihre Strahlen tauchten die Stadt in ein warmes, goldenes Licht.

„Ella!“ Nahe des Einganges erblickte Ella ihre Freundin Margarita, ein hochgewachsenes, schlankes Mädchen mit rötlich gefärbtem Haar. Sie wurde von zwei Männern begleitet, die Ella nicht kannte.
Freundlich lächelnd, ging Ella auf die Freundin zu. Diese zog sie beiseite.
„Wer sind die?“, fragte Ella und warf einen Blick auf die Männer.
„Das erzähle ich dir später“, sagte Margarita nervös. „Ella, könntest du mir vielleicht die Matrjoschka, die ich dir gestern geschenkt habe, zurückgeben? Ich schenke dir eine andere, schönere…“
„Natürlich kann ich das – obwohl dein Wunsch seltsam ist…“
„Ich habe dir doch gesagt, dass ich dir später alles erklären werde.“ Ängstlich blickte Margarita zu den Männern hinüber. Der eine, ein großer mit dunkelbraunen Augen, trug einen langen schwarzen Mantel und sah mürrisch in die Richtung der beiden Mädchen. Der andere, ein Blonder in grauer Jacke, stand von ihnen abgewandt und rauchte eine Zigarre.
„Hilf mir. Siehst du denn nicht, dass ich Probleme habe…“, flüsterte die Freundin aufgeregt. „Da ist sie, deine Matrjoschka.“ Ella holte die mit markanten Farben bemalte Puppe aus ihrer Handtasche heraus und gab sie Margarita. „Allerdings fehlt die kleinste Matrjoschka. Ein Verkäufer aus unserem Geschäft hat sie sich einfach herausgenommen. Er hat versprochen, sie mir morgen zurückzugeben.“

Auszug aus dem Buch „Die sechste Matrjoschka"

(„Das Fluidum des Abgrundes")

© Heinrich (Gennady) Dick